Sonntag, 20. Januar 2008

Der aufgeblasene Shakespeare

(Ham III.4) Gerade hat Hamlet für einen veritablen Theaterskandal gesorgt, König Claudius ist verstimmt und zieht sich in seine Kapelle zurück. Hamlet bringt ihn nicht um, da es ein unpassender Moment wäre, ihn direkt in die Hölle zu befördern. Stattdessen wird Hamlet in die Kammer seiner Mutter zitiert, um sich zu erklären. Dort sticht er in den teuren Gobelin, hinter dem sich sein bis dato potenzieller Schwiegervater Polonius befand. Hamlet zeigt kein Mitleid, bedauert nur, dass es nicht den Richtigen erwischt habe. Dann springt er zur Mutter und Königin Gertrud aufs Bett und hält ihr einen Vortrag über das rechte Benehmen, inklusive Sexualverhalten bei älteren Damen.
Nennt es nicht Liebe! Denn in Eurem Alter
Ist der Tumult im Blute zahm; es schleicht
Und wartet auf das Urteil: und welch Urteil
Ging’ wohl von dem [Hamlet sen.] zu dem [Claudius]? Sinn habt Ihr sicher,
Sonst könnte keine Regung in Euch sein:
Doch sicher ist der Sinn vom Schlag gelähmt,
Denn Wahnwitz würde hier nicht irren; nie
Hat so den Sinn Verrücktheit unterjocht,
Daß nicht ein wenig Wahl ihm blieb, genug
Für solchen Unterschied.
Was für ein Teufel
Hat bei der Blindekuh Euch so betört?
Sehn ohne Fühlen, Fühlen ohne Sehn,
Ohr ohne Hand’ und Aug’, Geruch ohn’ alles,
Ja nur ein Teilchen eines echten Sinns
Tappt nimmermehr so zu.

Scham, wo ist dein Erröten. […]

Was für ein Teufel führt dem Herren Shakespeare hier die Feder? Was sollen die sterbenslangweiligen zehn Zeilen theoretischer Erörterung hier in dieser hochdramatischen, actiongeladenen Szene? - Nun, sie sind nachträglich eingefügt worden! Das erste Quarto (Q1, 1603) paraphrasiert eher die Szene, im ersten Folio (FF) von 1623 fehlen die o.a. Stellen völlig , die aus dem zweiten Quarto (Q2), dem Garrick-Quarto von 1604 übernommen wurden.

Und was bedeutet das überhaupt: Sinn habt Ihr sicher, / Sonst könnte keine Regung sein: / Doch sicher ist der Sinn vom Schlag gelähmt ? Harold Jenkins gibt den Hinweis, dass C.S. Lewis (Ja, der Narnia-Chronist) diese Stelle in seinen Studies of Words untersucht habe, und dabei einen Hinweis auf den alten Weltweisen Aristoteles sieht, der in seiner Schrift De sensu erklärte, jegliche Kreatur, die über die Gabe der Fortbewegung verfüge, müsse notwendigerweise auch über die äußeren Sinne verfügen. - Das heißt: Um den (komplett überflüssigen) obigen Satz zu verstehen, muss man sich erst einmal in das (mittlerweile komplett überholte) Wahrnehmungskonzept des Aristoteles hineinversetzen, mit ihm über die dampfenden Schlachtfelder der Antike schreiten und in den Gehirnen der Verletzten und Gefallenen herumstochern.

Vielen Dank, Herr Shakespeare, Sie übler Bildungsprotz! Wir sehen uns in der Bibliothek.

Samstag, 12. Januar 2008

Hamlet, eine Stummfilmdiva?


Aber ja! Im Jahr 1920 zeigte die göttliche Asta Nielsen der Welt ihre von Edward Vining inspirierte Interpretation des Hamlet: Eigentlich war Hamlet eine Prinzessin, die Verwirrung der Ophelia wird verständlich und die Beziehung zu Horatio war nicht nur rein freundschaftlich. - Ausschnitte aus dem Werk gibt es bei Youtube hier. Denn auf der Berlinale 2007 wurde der Asta-Nielsen-Hamlet anlässlich einer Retrospektive in der Volksbühne gezeigt und mit Live-Musik unterlegt. Der Clip begleitet das Orchester bei Proben, Besprechungen und der Premiere. Hoffentlich wiederholt der Fernsehsender arte den Stummfilm demnächst.


MIT Hamlet on the ramparts: Hamlet, a woman? - Mit Real-Player-Clips des 1920er Hamlet

Kathi Hetzinger informiert kenntnisreich u.a. auf satt.org: Cinemania 41

Monika Seidl "Room for Asta: Gender roles and melodrama in Asta Nielsen's filmic version of Hamlet (1920)". Literature Film Quarterly. 2002. FindArticles.com. 13 Jan. 2008. http://findarticles.com/p/articles/mi_qa3768/is_200201/ai_n9057293

Edward P. Vining: The Mystery of Hamlet 1881. (Prinzessin Hamlet)

Sonntag, 6. Januar 2008

Guter Vorsatz

Wer Shakespeare wahrhaftig verstehen möchte,
der muss gleichfalls verstehen,
in welcher Beziehung Shakespeare zu Renaissance und Reformation stand,
zum elisabethanischen wie jakobäischen Zeitalter;
der sollte vertraut sein mit der Geschichte des Kampfes um die Vorherrschaft zwischen den alten klassischen Formen und dem neuen Geist der Romanzen,
zwischen der Schule eines Sidney, Daniel und Johnson und der Schule des Marlowe oder seines bedeutenderen Sohnes;
der sollte Kenntnisse verfügen über die Stoffe, die Shakespeare zur Verfügung standen, und die Art und Weise, wie er sie benutzt hat,
Kenntnisse über die Bedingungen unter denen im 16. und 17. Jahrhundert sich Theater darstellte, die Einschränkungen und Möglichkeiten der Freiheit,
Kenntnisse über die Literaturkritik zur Shakespearezeit, ihre Ziele, die Art und Weise, und ihren Kanon;
der sollte die englische Sprache in ihrem Wandel und Fortschritt studieren, den Blankvers und gereimte Verse in in ihren vielfältigen Entwicklungen;
der sollte das griechische Drama studieren, und die Verbindung des Schöpfers des Agamemnon mit dem Schöpfer des Macbeth;
in einem Wort, er sollte in der Lage sein, das Athen des Perikles mit dem elisabethanischen London zu verknüpfen, - um Shakespeares wahre Stellung in der Geschichte des europäischen Dramas und des Welttheaters zu erfassen.
Oscar Wilde, The Critic as Artist, 1891.

Mittwoch, 2. Januar 2008

In der Wüsten Reihe #9


Dank Herrn Pfister (s.u.) nuschelte und nölte mich der 1965er Bob Dylan über den Jahreswechsel. Bob Dylan fand auf Highway 61 Revisited das Fräulein Ophelia in seiner Desolation Row.
Now Ophelia, she’s ’neath the window
For her I feel so afraid
On her twenty-second birthday
She already is an old maid

To her, death is quite romantic
She wears an iron vest
Her profession’s her religion
Her sin is her lifelessness
And though her eyes are fixed upon
Noah’s great rainbow
She spends her time peeking
Into Desolation Row
(Quelle: BobDylan.com)
Bob Dylan kann sich über eine geringe Exegeten-Schar nicht beklagen. Seine Songtexte werden seit Generationen regelmäßig durch- über- und fehlinterpretiert. Für mich hört sich Desolation Row nach den Erlebnissen eines Zugedrogten in der Notaufnahme eines Großstadtkrankenhauses an, notiert auf der Heimfahrt in einem New Yorker Taxi, nachdem die Pfleger ihn vor die Tür gesetzt haben; aber … es gibt auch andere Meinungen. (Dylan mit Warhol, 1965 in der Factory, hier.)