Nennt es nicht Liebe! Denn in Eurem Alter
Ist der Tumult im Blute zahm; es schleicht
Und wartet auf das Urteil: und welch Urteil
Ging’ wohl von dem [Hamlet sen.] zu dem [Claudius]? Sinn habt Ihr sicher,
Sonst könnte keine Regung in Euch sein:
Doch sicher ist der Sinn vom Schlag gelähmt,
Denn Wahnwitz würde hier nicht irren; nie
Hat so den Sinn Verrücktheit unterjocht,
Daß nicht ein wenig Wahl ihm blieb, genug
Für solchen Unterschied. Was für ein Teufel
Hat bei der Blindekuh Euch so betört?
Sehn ohne Fühlen, Fühlen ohne Sehn,
Ohr ohne Hand’ und Aug’, Geruch ohn’ alles,
Ja nur ein Teilchen eines echten Sinns
Tappt nimmermehr so zu.
Scham, wo ist dein Erröten. […]
Was für ein Teufel führt dem Herren Shakespeare hier die Feder? Was sollen die sterbenslangweiligen zehn Zeilen theoretischer Erörterung hier in dieser hochdramatischen, actiongeladenen Szene? - Nun, sie sind nachträglich eingefügt worden! Das erste Quarto (Q1, 1603) paraphrasiert eher die Szene, im ersten Folio (FF) von 1623 fehlen die o.a. Stellen völlig , die aus dem zweiten Quarto (Q2), dem Garrick-Quarto von 1604 übernommen wurden.
Und was bedeutet das überhaupt: Sinn habt Ihr sicher, / Sonst könnte keine Regung sein: / Doch sicher ist der Sinn vom Schlag gelähmt ? Harold Jenkins gibt den Hinweis, dass C.S. Lewis (Ja, der Narnia-Chronist) diese Stelle in seinen Studies of Words untersucht habe, und dabei einen Hinweis auf den alten Weltweisen Aristoteles sieht, der in seiner Schrift De sensu erklärte, jegliche Kreatur, die über die Gabe der Fortbewegung verfüge, müsse notwendigerweise auch über die äußeren Sinne verfügen. - Das heißt: Um den (komplett überflüssigen) obigen Satz zu verstehen, muss man sich erst einmal in das (mittlerweile komplett überholte) Wahrnehmungskonzept des Aristoteles hineinversetzen, mit ihm über die dampfenden Schlachtfelder der Antike schreiten und in den Gehirnen der Verletzten und Gefallenen herumstochern.
Vielen Dank, Herr Shakespeare, Sie übler Bildungsprotz! Wir sehen uns in der Bibliothek.