Donnerstag, 6. November 2008

Harald im Fegefeuer


In Stuttgart gab es einen viel besprochenen und ausverkauften „Hamlet“ mit dem Late-Night-Talker Harald Schmidt in der Rolle des Polonius, des Geistes und des skelettierten Yorick. Ein Kritiker raunte, es gebe immer mal wieder Aufführungen, bei denen sich Ensemble und Publikum gegen die Kritik verschwörten. Dies war so eine.

Der Prinz von Dänemark - ein Musical von und mit Harald Schmidt. Regie: Christian Brey, Bühne: Elisa Limberg, Kostüme: Petra Bongard, Choreografie: Bridget Breiner, Kampfchoreografie: Klaus Figge. Mit: Martin Leutgeb (Claudius), Benjamin Grüter (Hamlet), Harald Schmidt (Polonius, Geist, Bote, Schädel), Thomas Eisen (Horatio, Rosenkranz, Totengräber), Sebastian Schwab (Laertes, Güldenstern, Bernardo, Totengräber), Marietta Meguid (Gertrude), Lilly Marie Tschörtner (Ophelia) sowie Jean Pierre Barraqué, Max Braun, Matthias Klein und Andreas Zbik (Band Fort'n'Brass). Premiere 25.10.2008, weitere Termine 8.11., 30.11. 1.12., 5.12.08 www.staatstheater.stuttgart.de

Beste Kritik: „Monty Python statt Burgtheater“ von Ralf-Carl Langhals auf Nachtkritik.de mit Meta-Feuilleton (und dem tobenden Pöbel in der Kommentarfunktion, der zum Boykott der - ausverkauften - Vorstellung aufruft).

Samstag, 25. Oktober 2008

Läuterungen



Befinde mich zur Zeit in der Lektüre. Stephen Greenblatt (*7.11.1943), Begründer des New Historicism, Autor der Shakespeare-Biographie „Will in der Welt“ und multimedialer Tausendsassa (Hat Tip: Blogging the Renaissance), schrieb „Hamlet im Fegefeuer“, erschienen bei Suhrkamp in altdeutscher Rechtschreibung. Erläutert den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Hamletschen Geisterscheinungen. In ungleichmäßigem Tempo: Mal werden Bibliographien kommentiert, mal erleben wir Greenblatt beim Exzerpieren.

Es beginnt im Mittelalter. Um 1180 verfasst der Mönch H. von Sawtry den Tractatus de Purgatorio Sancti Patricii (Das Fegefeuer des heiligen Patrick), der sich zu einem Bestseller des Mittelalters entwickelt. Insbesondere in den landessprachlichen Übersetzungen. Greenblatt bearbeitet die mittelenglische Coverversion, das Owayne Miles. Achtung, Spoiler! Der Eingang zum Fegefeuer (Purgatorium) befindet sich in Irland, in der Grafschaft Donegal bei Lough Derg.

Montag, 20. Oktober 2008

Jagoisierung des Hamlet durch die Generation Wasserflasche jetzt im Maxim Gorki Theater


Selten war es der Fall, dass ausgerechnet Erz-Schurke König Claudius (Bitte mehr von: Matthias Reichwald) zum Helden des Hamlet wurde. Aber der Regisseur Tilmann Köhler konnte es aufgrund seiner Casting-Fehlkalkulationen oder sonstiger Planlosigkeit nicht verhindern. Ophelia als Berliner Göre war eigen, außer Konkurrenz und brach mit allen Traditionen, dafür konnte die großartige Julischka Eichel nichts … und niemand sie stoppen. Der schnoddrige „Ej, Sein oder Nichtsein“-Hamlet Max Simonischek wurde weder Stück noch Ensemble gerecht, nur beim finalen Wasserflaschenduell konnte der sonst Blasse glänzen.

Wasserflaschen statt Rapiere zum Duell hört sich merkwürdig an, kam aber, dank richtiger Action-Choreographie (Fechtmeister: Thilo Mandel), komplett unpeinlich rüber. (An dieser Stelle noch ein Hinweis auf das 1599 erschienene Fechthandbuch von George Silver Paradoxes of Defence - "Wherein is proved the true grounds of fight to be the short ancient weapons and that the short sword has advantage over the long sword or the long rapier. And the weakness and imperfection of the rapier-fights displayed. Together with an admonition to the noble, ancient, victorious, valiant, and most brave nation of Englishmen, to beware of false teachers of defence, and how they forsake their own natural fights. With a brief commendation of the noble science or exercising of arms.")

Sehr cool: Michael Klammer als Horatio! Endlich mal ein Schauspieler ohne diesen Waldorfschüler-Vegetarier-Körper. Ein physischer Typ, (Das ist ein physischer Typ! Schreib dir das hinter die Ohren, Waschlappen Tukur!) prädestiniert für große Heldenrollen.

Fazit: Gelungener Abend, nah am Text (dt. v. Heiner Müller), Action, frische Schauspieler, originelle Kostüme. 4 von 5 Rapieren.

Regie: Tilmann Köhler, Bühne: Karoly Risz, Kostüme: Susanne Uhl, Musik: Jörg-Martin Wagner, Dramaturgie: Andrea Koschwitz, Hamlet: Max Simonischek, Claudius/Geist: Matthias Reichwald, Gertrud: Antje Trautmann, Ophelia/Fortinbras Julischka Eichel, Horatio: Michael Klammer, Polonius: Ulrich Anschütz, Schauspielerin/Totengräber: Ursula Werner, Laertes: Franz Hartwig, Rosencrantz/Marcellus: André Kaczmarczyk, Guildenstern/Bernardo: Tilman Strauß, Hauptmann: Jörg-Martin Wagner. - Weitere Termine: So 16.11., Fr 19.12., Mo 29.12.08 www.gorki.de

Klickempfehlung: Die Nachtkritik „Standbilder aus dem Unterfutter des Bewußtseins“ von Nikolaus Merck, der ich den Begriff Generation Wasserflasche entnahm und sofort in den aktiven Wortschatz einverleibte.

Sonntag, 31. August 2008

Like a Dog Chasing Cars


Sei mir gegrüßt, Melancholie,

Die mit dem leisen Feenschritt

Im Garten meiner Phantasie

Zu rechter Zeit ans Herz mir tritt!

Gottfried Keller


Die Hamletmaschine begrüßt den anderen großen Schwarzgalligen, den anderen Mann in Schwarz, den Rächer seines ermordeten Vaters, den anderen Schauspieler seiner Selbst, den wahnsinnig intelligenten Schizophrenen, der sich Dürers Wappentier der Melancholie auf die Brust heftete … Batman, The Dark Knight.

Und so sieht ein belesener Naturwissenschaftler die Gemütskrankheit - Sehr zu empfehlen! Dietrich von Engelhardt: Depressionen - Melancholie in der Medizin- und Kulturgeschichte. Pharmazeutische Zeitung 14, 2007 Online http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=2852

Dienstag, 19. August 2008

Für eine Nußschal’ Georgien



Hamlet. Und geht es auf das ganze Polen oder
Auf einen Grenzort nur?
Hauptmann. Um wahr zu reden und mit keinem Zusatz,
Wir gehn, ein kleines Fleckchen zu gewinnen,
Das keinen Vorteil als den Namen bringt.
Für fünf Dukaten, fünf, möcht ichs nicht pachten,
Auch bringts dem Norweg oder Polen sicher
Nicht mehr, wenn man auf Erbzins es verkauft.
Hamlet. So wird es der Polack nicht halten wollen.
Hauptmann. Doch; es ist schon besetzt.
Hamlet. Zweitausend Seelen, zwanzigtausend Goldstück
Entscheiden diesen Lumpenzwist noch nicht.
Dies ist des Wohlstands und der Ruh Geschwür,
Das innen aufbricht, während äußerlich
Kein Todesgrund sich zeigt. - Ich dank Euch, Herr.

Montag, 18. August 2008

Gemischte Off-Topics-Platte

Zum einen sei auf das amüsante Quiz „Welcher Dramatiker-Typ sind Sie?“ des steuerfinanzierten Bildungsträgers arte verwiesen. Die Hamletmaschine zählt doch - den kompetenten Quizautoren zufolge zum Molière-Typus.

Dann ist zum zweiten noch eine Ergänzung zum Blog-Eintrag über den Wermut anzuführen. Wie der verlinkten Seite Hamlethaven.com zu entnehmen ist, gab es da doch den Autor R. Chris Hassel Jr., der 1993 im Deutschen Shakespeare-Jahrbuch West auf den Seiten 150-162 die Bedeutungen des Wermuts, wormwood, Artemisia absinthium ausführlich behandelt hat, und in dem Exzerpt auf Hamlethaven findet sich der - von mir überlesene - Hinweis auf eine Stelle in Romeo und Julia (I.3). Hier wird der Wermut als Mittel der Entwöhnung von Säuglingen eingesetzt, speziell der dreijährigen Julia. Die Wärterin (Amme) spricht:
Elf Jahr ist's her, seit wir 's Erdbeben hatten:
Und ich entwöhnte sie (mein Leben lang
Vergess' ich's nicht) just auf denselben Tag.
Ich hatte Wermut auf die Brust gelegt,
Und saß am Taubenschlage in der Sonne;
Die gnäd'ge Herrschaft war zu Mantua.
(Ja, ja! ich habe Grütz' im Kopf!) Nun, wie ich sagte:
Als es den Wermut auf der Warze schmeckte
Und fand ihn bitter – närr'sches, kleines Ding –,
Wie's böse ward und zog der Brust ein G'sicht!

Diese Stelle sei damit nachgetragen.

Donnerstag, 14. August 2008

J’etait Hamlet



Herrlich „postmodern“ und nichts für Minderjährige, diese französische bladerunnereske Hamletmaschine aus dem Jahr 2003. Fünf Seiten Text werden drei Minuten Film.

Mittwoch, 13. August 2008

42. Hamlet im Film - mindestens



In einem kafkaesken Niemandsland mit obligatem Gender-Bender-Rollentausch siedelt Low-Budget-Regisseur Alexander Fodor seinen Hamlet an. Daraus: der obige Sein-oder-Nichtsein-Monolog. Kühl.

Freitag, 8. August 2008

Hamlet im hohen Norden

Man erkennt es kaum, aber dieser Hamlet, der am Dramaten in Stockholm, Schweden gegeben wird, weint aus beiden Augen. Diese Interpretation bricht nur vordergründig mit der Tradition des düsteren Denkers.

Und wenn man schon in Stockholm ist, dann muss man natürlich in das Vasa-Museum gehen. Ein großartiges Museum wurde um das 1628 gleich nach dem Stapellauf gekenterte Flaggschiff der schwedischen Marine herumgebaut. Umberto Eco veranlasste die Betrachtung der „Wasa“ zu einer kleinen Philosophie über den Begriff der Identität: »Wir werden die heutige Wasa folglich für identisch mit der von damals halten, weil wir als entscheidende Parameter (i) die stufenweise Kontinuität, (ii) die ununterbrochene legale Anerkennung und (iii) die Form betrachten.«

Diesen Gedanken aus Kant und das Schnabeltier gilt es besonders im Hinterkopf zu behalten, wenn es um editorische Fragen des Hamlet geht, und auch Eco wird etwas melancholisch, wenn er sich die Frage nach seiner Identität stellt. »Ich käme in Verlegenheit, wenn ich sagen sollte, welches meine Form sei … «

Montag, 4. August 2008

Abkürzungsverzeichnis

All’s Well that Ends Well AW
Antony and Cleopatra AC
As You Like It AYL
The Comedy of Errors CE
Coriolanus Cor
Cymbeline Cym
Hamlet Ham
Henry IV, Part 1 1H4
Henry IV, Part 2 2H4
Henry V H5
Henry VI, Part 1 1H6
Henry VI, Part 2 2H6
Henry VI, Part 3 3H6
Henry VIII H8
Julius Caesar JC
King John KJ
King Lear KL
Love’s Labour’s Lost LLL
A Lover’s Complaint LC
Macbeth Mac
Measure for Measure MM
The Merchant of Venice MV
The Merry Wives of Windsor MW
A Midsummer Night’s Dream MND
Much Ado About Nothing MA
Othello Oth
The Passionate Pilgrim PP
Pericles Per
The Phoenix and the Turtle PhT
The Rape of Lucrece Luc
Richard II R2
Richard III R3
Romeo and Juliet RJ
Sonnets Son
The Taming of the Shrew TS
The Tempest Tem
Timon of Athens Tim
Titus Andronicus Tit
Troilus and Cressida TC
Twelfth Night TN
The Two Gentlemen of Verona TGV
The Two Noble Kinsmen TNK
Venus and Adonis VA
The Winter’s Tale WT

Dienstag, 29. Juli 2008

„Nähren muss mich nun das nackte Selbst“



Ein kaum gespieltes Stück aus der Klasse der Problemkomödien wurde auf dem Shakespeare-Festival in Neuss aufgeführt: Ende gut, alles gut.

Heldin des Stückes ist die bürgerliche Arzttochter Helena, die sich in den blasierten Grafen Bertram verliebt hat. Bertram liebt sie nicht, wird aber zur Ehe mit Helena durch den König genötigt, denn diese hatte den todkranken Monarchen durch ein Wundermittel aus dem Nachlass ihres Papas geheilt. Den frischgebackene Bräutigam Bertram zieht es stattdessen in die Toskana, um sich dort mit seinem persönlichen Assistenten Parolles als Söldner die Zeit zu vertreiben. Dazu gehört auch die niedere Minne, der depperte Adlige (Habsburg lässt grüßen) macht der frommen Wirtshaustochter Diana den Hof. Währenddessen pilgert Helena ihren ganz persönlichen Jakobsweg, ihrer endet in Florenz. - Die falstaffianische Gestalt Parolles kommt in den Genuss einer frühneuzeitlichen Variante des „Waterboarding“, nur so zum Spaß, weil er seine Trommel verloren hat. Da er dabei seine Vorgesetzten verrät und einige unangenehme Wahrheiten über die Führungskräfte verrät, wird die Scheinhinrichtung abgebrochen und Parolles unehrenhaft aus dem Militärdienst entlassen. (Aber: einmal Öffentlicher Dienst, immer Öffentlicher Dienst. Wir ahnen, dass am Hofe der Gräfin von Roussillon eine C4-Professur als Narr freigeworden ist.) - Heldin Helena wendet den berühmten bed trick an, gewinnt derart Ring und Kind und somit - ein Graf, ein Wort - auch die Liebe ihres Gatten zurück. Ende gut, alles gut. All’s Well That Ends Well.

Es bleibt ein bitterer Schluss, man vermisst doch eine etwas glaubhaftere Läuterung des männlichen Protagonisten, das liegt aber an Herrn Shakespeare. - Tolle, amüsante, temporeiche Aufführung mit herrlich albernem Slapstick-Humor, super Schauspieler, Michael Meyer glänzt als Parolles, hat aber deutlich mehr Spaß in der Rolle der Pizzabäckerswitwe. Beate Weidenhammer muss nur aus den Augen gucken, schon ist sie komisch. - Wunderbares Festival, man spürt die positiven vibes. Und natürlich der Spielort! Den Globe architektonisch, in der Funktion als Theaterstätte, zu erleben, ist schon Grund genug, das alljährliche Neusser Shakespeare-Festival zu besuchen.

Ende gut, alles gut. Globe-Theater Neuss. Gastspiel der bremer shakespeare company. 24.-27. Juli 2008. Regie, Übersetzung, Bühne: Sebastian Kautz. Kostüme: Uschi Leinhäuser. Darsteller: Janina Zamani (Helena, Herzog von Florenz, Koch); Tim D. Lee (Bertram, Lavache, Mariana, Koch); Markus Seuß (König von Frankreich, Lafeu, Diana, Koch); Beate Weidenhammer (Gräfin von Roussillon, Bote, Jungfrau Maria, Koch); Michael Meyer (Parolles, Witwe, Koch)

Samstag, 26. Juli 2008

Worum dreht es sich?


Wieder einmal war es DD, der Dramatische Dilettant Bert Brecht, der die Nebelkerze (1) für seinen St. Alin (2) entzündete, und die Aufmerksamkeit auf den unscheinbarsten der Kandidaten lenkte, die Kopernikus’ Fackel der wahren Revolution (3) an den „Kehrichthaufen der Geschichte“ (Trotzki 1930) legte. Galilei (4) war es nicht, das wusste schon dessen Altersgenosse Shakespeare besser.

Denn: Wer spukte seit der Supernova von 1572 (5) nachts auf dänischen Terrassen herum? Wer sah gar gespenstisch aus, mit seiner angeklebten Nasenprothese? Wer zweifelte an der Sonne Klarheit, an der Sterne Licht, angesichts des Kometen von 1577? (6) Der dänische Astronom Tycho Brahe war es, der Kupferstiche seines Porträts im Kreise der Ahnenwappen (darunter auch jene derer von Rosenkranz und Güldenstern) nach England schickte, mit der Aufforderung, sie den besten Poeten Englands vorzulegen, damit sie ein Epigramm auf ihn dichteten. Das unprämierte Epigramm Shakespeares lautet vermutlich „The Hawk and the Handsaw“, so deutet es jedenfalls der höchst lesenswerte Emiritus der Astronomie, Prof. Peter D. Usher (7) an, der die himmlischen Fakten zu einer allegorischen Deutung des Hamlet zusammenfasst: Der illegitime König Claudius steht für - der Name sagt es - den geozentrischen Claudius Ptolemäus; Rosencranz und Güldenstern repräsentieren den intermediären, in einem ideologischen Fegefeuer gefangenen, Tycho Brahe und Fortinbras ist der siegreich aus Polen heimkehrende Kopernikus. - Ushers Interpretationsmodell ist zwar noch stark ausbaubar, überzeugt durch seine Detailverliebtheit und den Verzicht auf den Alleinvertretungsanspruch der sonstigen Unorthodoxen.

1 Wikipedia „Das Leben des Galilei“ — 2 Die Welt, 21.7.2008 - Kommunisten wollen Heiligsprechung Stalins — 3 Nikolaus Kopernikus: „De Revolutionibus Orbium Coelestium“ (Von den Umdrehungen der Himmelskreise) 1543 — 4 Hans Conrad Zander: „1633 - Warum die Inquisition im Fall Galilei Recht hatte” Die Welt, 18.1.2008 — 5 Supernova 1572 — 6 Komet von 1577 — 7 Peter D. Usher, Professor Emeritus am Department of Astronomy and Astrophysics der Penn State University

Sonntag, 20. Juli 2008

Künstlerkneipe

Künstlerkneipe im Rom des 17. Jahrhunderts
Eine Künstlerkneipe im Rom des 17. Jahrhunderts mit Karikaturen an der Wand zwischen 1625 und 1639. Zeichnung von Pieter van Laar, Feder und Tinte, laviert auf Papier, 20.3 x 25.8 cm. Kupferstichkabinett, Staatliche Museen Berlin.

In meiner Phantasie ist die junge Person in der Mitte, das Gesicht abgewandt, jener unbekannte Provinzler, der den Hocker umwarf, der mit den Konventionen brach, Shakespeare. Zu seiner Linken: Christopher Marlowe, der die Hellebarde abgestellt hat, der Eigentlich-Künstler im geheimen Staatsdienst, zündet sich eine Feierabendpfeife an. An der Wand, zwei Maler in einem wit contest, angefeuert von den Kollegen, ignoriert von den Spitzeln oder Incognito-Adligen mit den langen Ohren beim Mühle-Spiel, und ganz rechts, Blooms Liebling, der dicke Ritter, der riesige Fleischberg, Sir John Falstaff höchstpersönlich. Aber es ist nur eine Phantasie.

Samstag, 19. Juli 2008

Künstlerpech

Juli. Sommerzeit. Die Staatstheater gehen in die Ferien. Incredible Hulk Peymann gewährt 3sat ein Interview aus seinem Garten. Open-Air-Bühnen hoffen auf gutes Wetter, die Stadt Neuss lädt vom 24. Juli bis zum 24. August in ihren überdachten Globe-Nachbau zum Shakespeare-Festival.

Ich habe Karten für das selten gespielte Ende gut, alles gut (All’s Well That Ends Well), lese mich ein, und höre eine Hamlet-Weise erklingen. „Dänemark ist ein Gefängnis!“ In dem Problemstück tönt eine ganz ähnliche kognitive Musik, allerdings statt in Moll- in der Dur-Tonart. Der Maulheld Parolles verkündet „Frankreich ist ein Stall, und wir die Mähren drin; drum fort ins Feld.“ (Ende gut II.3)

Künstlerpech. Hamlets dänisches Gefängnis mag an Anna von Dänemark, Gattin Jakobs I., seit 1603 Englands neuer König gescheitert sein, ohne große persönliche Animositäten.

Die Band „Juli“ hatte 2004 gerade ihren Riesenhit „Die perfekte Welle“, da ereignet sich eine Katastrophe gegen die Goethens Erdbeben von Lissabon nur am unteren Ende der Richter-Skala rangiert. Der Tsunami. Und schon passt der großartige Song nicht mehr zum Zeitgeist, wird nicht mehr im Radio gespielt.[*] Künstlerpech.

Anmerkung zu Ende gut, alles gut: Der Reclam-Herausgeber Dietrich Klose empfiehlt zur Vertiefung den New Arden Shakespeare, er nennt die Quelle des Stücks, die Geschichte der Giletta von Narbonne in Boccacios Decamerone (III.9) sowie Shakespeares Vorlage, die englische Sammlung Palace of Pleasures aus dem Jahr 1566.

Dienstag, 15. Juli 2008

Dänemark ein Gefängnis?



Wie hieß doch gleich die Gemahlin des englischen Königs Jakob I.? Königin Anna von Dänemark (s.o.), Mäzenatin der schönen Künste, Förderin der Maske und der Child Actors! Pech gehabt, Herr Shakespeare. So, diese Zeilen konnte der gute Will sich abschminken.
Hamlet. Lasst mich euch näher befragen: Worin habt ihr, meine guten Freunde, es bei Fortunen versehen, dass sie euch hierher ins Gefängnis schickt?
Güldenstern. Ins Gefängnis, mein Prinz?
Hamlet. Dänemark ist ein Gefängnis.
Rosenkranz. So ist die Welt auch eins.
Hamlet. Ein stattliches, worin es viele Verschläge, Löcher und Kerker gibt. Dänemark ist einer der schlimmsten.
Rosenkranz. Wir denken nicht so davon, mein Prinz.

In Garricks Second Quarto von 1604 sucht man vergeblich nach dieser Stelle.

Sonntag, 29. Juni 2008

Unterirdische Monologe


Ich bin deines Vaters Geist:
Verdammt auf eine Zeitlang, nachts zu wandern,
Und tags gebannt, zu fasten in der Glut,
Bis die Verbrechen meiner Zeitlichkeit
Hinweggeläutert sind.
(Ham. I.5.9-13)

Man sagt, so Gottfried Helnwein, ab 70 halte ein Mann nur noch Monologe. - Zwei frühe Gestalten taten bereits ab 50 so, als würden sie miteinander reden. Zusammen bildeten sie die Waldorf-und-Statler-Eiterbeule am Gesäß des Privatfernsehens. In der linken Ecke, der Besserwessi, das Über-Ich der BRD, der filmende Rechtsanwalt Alexander … Kluuuuuuuge. Und in der rechten Ecke, mit der Havanna, der Superossi, der Epigone Brechts, Raucher, Regisseur und Republiknichtflüchtling Heiner Müüüüüüller.

Die gesammelten Perlen unfreiwilliger Tragikomik gibt es auf einer Website der Cornell University Library. Hier: Gespräche zwischen Heiner Müller und Alexander Kluge

Alas, poor ghost.

Hamlets geheime Freimaurerzeichen?


Den Freunden will ich weit die Arme öffnen
Und wie der Lebensopfrer Pelikan
Mit meinem Blut sie tränken.
(Ham. IV.5.145)

War Hamlet ein Freimaurer? Sicher nicht. Die Männergebetsvereine von 1717 ff, die Geodreieck und Zirkel im Wappen führen, suchten aber gern nach vorzeitlicher Legitimation und heiligen Texten. Und Goethe, der schlimmste der Schaumschläger, hilft gerne aus. Stichwort: Wilhelm Meisters Lehrjahre, die Turmgesellschaft. Der Bildungsweg. You know.

Aber dass George W. Bush ein freemason ist, das konnte Leonard Zelig in seinem Blog Wind in the Wires schon 2007 zweifelsfrei nachweisen.

Wiki: Lehre vom vierfachen Schriftsinn

Bodycount während der Hamletmaschine

Die Hamletmaschine blieb noch eine Theaterkritik schuldig, und zwar die der Gotscheffschen Hamletmaschine am Deutschen Theater in Berlin. Positiv: Dimiter „Mitko“ Gotscheff sieht sehr gut aus auf seine alten Tage mit seinem vollen langen Weißhaar. Negativ: der Rest.

Obwohl das Stück nur eine knappe Stunde dauerte, musste man gegen die Langeweile und schlimmer noch den Schlaf ankämpfen. Das Bühnenbild bestand aus zehn Einsparungen, Gräbern, und unwillkürlich zählte man die Toten bei Hamlet, kam aber nur auf neun. Der kleine Khuon faselte etwas, das sich wie Kapitalismuskritik ausnahm. Unter Deutscher Bank und Coca-Cola macht es der Salonbolschewist ja nicht. Die arme Ophelia/Elektra Valery Tscheplanowa musste sich die Stimme ruinieren, in dem sie in ein hochgehängtes Überkopf-Mikro schrie. Die geschundene Valery übernahm den Blixa-Kreisch-Part, konnte deshalb nicht an die göttliche Gudrun Gut heranreichen, deren einzigartige Stimme nebst angeborener Coolness jeden Scheißtext in literarische Höhen katapultiert.

Toller Trick: Wie schon bei seiner „Tartuffe“-Inszenierung, in das Gotscheff den Elektra-Spruch »Hier spricht Elektra. Im Herzen der Finsternis. Unter der Sonne der Folter. An die Metropolen der Welt. Im Namen der Opfer. Ich stoße allen Samen aus, den ich empfangen habe. Ich verwandle die Milch meiner Brüste in tödliches Gift. […] etc« hineinwebte, werden zusammenhanglose Texte anderen Copyrights in die Aufführung hineingesprochen. Das Publikum wundert sich, die VG Wort zahlt doppelt.

Sonntag, 22. Juni 2008

Heine zur EM


Franzosen und Russen gehört das Land,
Das Meer gehört den Briten,
Wir aber besitzen im Luftreich des Traums
Die Herrschaft unbestritten.


Heinrich Heine: Deutschland, ein Wintermärchen. Hoffmann & Campe 1844

Hat Tip: Legendary Matussek: SPONKU

Sonntag, 8. Juni 2008

Ophelia und die Weiden - Perdita Iuventus


Wieder einmal bleibt man während der Hamlet-Lektüre an etwas rein Pflanzlichem hängen - der romantischen Weide am Wasser. Doch romantisch wurde sie erst durch Shakespeare selbst und die Romantiker. Wie aber sah man zu Shakespeares Zeiten (vor Shakespeare) die Weide?

Einfach ist die Botanik nicht in der Zeit vor Linné, dem alten Schweden. Fuchs’ Kräuterbuch beschrieb gerade mal drei Weiden-Gruppen: die einen, die anderen und die kleinen. Da ist man heute schon weiter und unterscheidet scharfsinnig zwischen rund zwanzig verschieden Spezies der Gattung Salix. Doch bei Shakespeare waren die Arten noch zu einem einzigen Begriff verschmolzen. Die Salweide mit den grauen Blättern, die Bruchweide, die über den Fluss hängt; die Korbweide, aus der man Körbe flechtet: alles war ein Weidenbaum.

Die Königin Gertrude wird zur Botin, wenn sie vom Tode der Ophelia (Ham 4.7.164 ff.) berichtet:
There is a willow grows askant the brook
That shows his hoary leaves in the glassy stream.
Therewith fantastic garlands did she make
[…] There … an envious sliver broke,

Es neigt ein Weidenbaum sich übern Bach
Und zeigt im klaren Strom sein graues Laub
Mit welchem sie phantastisch Kränze wand
[…] Dort … zerbrach ein falscher Zweig,
[Zum Verständnis: Ophelia geht zur Weide, um mit den Zweigen der Weide einen Kranz zu flechten. In den die anderen Blumen erst eingeflochten werden sollten.]

Die Weide wird unter Berufung auf Othello als Symbol für die enttäuschte Liebe gesehen, doch eine andere, tradierte Bedeutung, die auf Homers Odyssee (X.510) zurückgeht, und die in zeitgenössischen Emblemata aufgegriffen wird, verdient der Erwähnung. Die Weide steht nach Homer auch für Unfruchtbarkeit oder gar verlorene Frucht, wie es beispielsweise in dem Emblem PERDITA IUVENTUS (B. Aneau, Picta poesis 1552) ausgedrückt wird.
Frugisperda Salix, cui dat circunfluus humor
Nutrimen, calamos inter arundineos.
FILIUS est cui patris opes alimenta ministrant,
Ut fluat in molles undique delicias.
Inter adulantum pulchras specie, sed inanes
Turbas, blanditiae flexilis & Coracas.
Aetatis cum flore suae qui semina perdens
Virtutum: nulla posteà fruge valet.

Damned Youth - The fruitless willow, fed by water that flows around it among the reedy rushes, is a boy for whom his father’s wealth secures a living, so that he can lose himself in sweet delights of all sorts, amenable to flattery among crowds of flatterers and ravens, fine to look at but empty. He loses with the flower of his beauty the seeds of virtue; later, he will produce no fruit.

Vertane Jugend - Die fruchtverderbende Weide, welcher das herumfließende Wasser Nahrung gibt zwischen dem Schilfrohr, sie ist der Sohn, den des Vaters Mittel reichlich versorgen, so daß er ringsum in weichem Genuß zerfließt zwischen den Scharen der Schmeichler, die schön anzusehen, doch nichtswürdig sind, und den umgarnenden, wendigen Corax-Jüngern. Wer in der Blüte seiner Jahre den Samen der Tugend verliert, wird später niemals Frucht bringen.
Das frugisperda ist eine Übertragung aus dem Griechischen, es ist Homers clesakarpoj. Doch bereits beim perda griff man bereits wieder auf die klassische Mythologie zurück, zu finden in den Metamorphosen Ovids: Das Rebhuhn perdix, das die Höhe fürchtet und deshalb nur dicht am Boden bleibt, entstand aus dem 12-jährigen Neffen des Daedalus, den dieser aus Eifersucht über die Erfindung von Säge und Zirkel von der Klippe stieß. Ovid Met. IIX.236-259 »Daedalus wurde neidisch, stürzte ihn kopfüber von Minervas heiliger Burg und gab vor er sei ausgeglitten. Doch Pallas, die begabten Menschen gewogen ist, fing ihn auf, machte ihn zum Vogel und gab ihm mitten in der Luft ein Federkleid. Aber die Kraft seines einst so beweglichen Geistes ging in die Flügel und Füße über. Der Name blieb derselbe wie vorher.«

In der Zeit religiöser Auseinandersetzungen ist selbstredend auch die christliche Symbolkraft eines unfruchtbaren Baumes (wie vermeintlich auch der Weide) von Bedeutung. Da klingen primär die donnernden Worte von Johannes dem Täufer im Matthäus- und Lukas-Evangelium nach: Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt. Darum: jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.

Dienstag, 29. April 2008

Von Schwämmen und Körpern


(Ham IV.2) In dieser sehr kurzen Szene versuchen die beiden IM Wittenberg 1 und 2 den Leichnam des Polonius ausfindig zu machen. Sie, die Schwämme, scheitern selbst an solch einem simplen Auftrag. Hamlet wird persönlich und redet (wie einst Jesus) in gleichnishaften, alchymistischen Rätseln:
ROSENKRANZ. Sagt uns den Ort, daß wir ihn weg von da in die Kapelle tragen.
HAMLET. Glaubt es nicht.
ROSENKRANZ. Was nicht glauben?
HAMLET. Daß ich euer Geheimnis bewahren kann und meines nicht. Überdies, sich von einem Schwamme fragen zu lassen? Was für eine Antwort soll der Sohn eines Königs darauf geben?
ROSENKRANZ. Nehmt Ihr mich für einen Schwamm, gnädiger Herr?
HAMLET. Ja, Herr, der des Königs Miene, seine Gunstbezeugungen und Befehle einsaugt. Aber solche Beamte tun dem Könige den besten Dienst am Ende. Er hält sie wie ein Affe den Bissen im Winkel seines Kinnbackens; zuerst in den Mund gesteckt, um zuletzt verschlungen zu werden. Wenn er braucht, was Ihr aufgesammelt habt, so darf er Euch drücken, so seid Ihr, Schwamm, wieder trocken.

ROSENKRANZ. Ich verstehe Euch nicht, gnädiger Herr.
HAMLET. Es ist mir lieb: eine lose Rede schläft in dummen Ohren.

ROSENKRANZ. Gnädiger Herr, Ihr müßt uns sagen, wo die Leiche ist, und mit uns zum Könige gehn.
HAMLET. Die Leiche ist beim König, aber der König ist nicht bei der Leiche. Der König ist ein Ding —
GÜLDENSTERN. Ein Ding, gnädiger Herr?
HAMLET. Das nichts ist: bringt mich zu ihm. Versteck’ dich, Fuchs, und alle hinterdrein!
Hamlets kleine Narretei bildet (wie Jesus’ Salzfass) die Ausgangsbasis für ein gigantisches postmodernes Geschwurbel über die Herrschaften des Körpers und die Körperschaften der Herren.

Das Paradoxon von den Ersten und den Letzten findet sich schon in der Bibel, bsp. im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, Matthäus 20,16 So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.

Und wir singen den Psalm 144, Vers 3 und 4
HERR, was ist der Mensch,
dass du dich seiner annimmst,
und des Menschen Kind,
dass du ihn so beachtest?
Ist doch der Mensch gleich wie nichts;
seine Zeit fährt dahin wie ein Schatten.

Sonntag, 6. April 2008

Thalheimers Hamlet: Kritik der Kritik

WELT: Wenn tote Helden von der Bühne starren
Stefan Grund schreibt in der Welt: Triumphaler Hamlet, phänomenales Ensemble, Thalia Theater erste Wahl in Deutschland. Schöne Arabeske: „Gegen wen aber kann im Schach noch gewinnen, der schon vor Spielbeginn seinen König verlor?“ Anständiger, begeisterter Artikel, der auch noch Sachkenntnis beweist.

SPON: Auf der Couch mit Hamlet
In der recht wirren Kritik lässt Jenny Hoch das Wort Prozac auftauchen und gibt Hamlet den guten Ratschlag mit auf den Weg: „Würde er rasch ein paar Glückspillen einwerfen, sähe das Leben schon nicht mehr ganz so grau aus.“ Vielleicht sollte der Artikel doch lieber „Auf die Couch mit Jenny" heißen.

SZ/dpa: Michael Thalheimer verdichtet „Hamlet“
Die grandios überbewertete Süddeutsche Zeitung übernimmt einen Beitrag der Deutschen Presse-Agentur dpa und entlarvt sich selbst: „In gewisser Weise ehrlich sind noch Gertrud und Claudius in ihrer Liebesversessenheit. Selten ist das «böse Paar» so sympathisch und frei von Klischees gezeichnet worden.“ Wir bremsen auch für Diktatoren. - In dem nicht namentlich gekennzeichneten Artikel wird das verbotene Wort „quasi“ verwendet, weiterhin gibt es mehrfach Ironie-Anführungsstriche. Von der erwähnten Jubelfeier habe ich nichts bemerkt, es wurde zwar begeistert applaudiert, aber nicht so, dass der Hanseat seine Haltung verloren hätte.

Haha-Hamlet - Hat dieser Kerl kein Gefühl von seinem Geschäft? Er gräbt ein Grab und singt dazu

Karg war das Bühnenbild im Thalia-Theater, nur auf einem schachbrettartigen Parkett agierten die Gestalten, im Hintergrund wartete der Rest des Ensembles wie Auswechselspieler einer Eishockeymannschaft auf ihren Einsatz. Karg war die Ausstattung mit Kostümen: eine Unterhose der Ophelia fehlte, wie auch der BH für Königin Gertrude. Beim Auftritt des Geistes bekreuzigte sich eine Zuschauerin mit den Perlenohrsteckern, weniger vor Furcht, vermutlich eher aus Mitleid mit dem Penisschwinger.

Hamlets Sein-oder-Nichtsein-Monolog schien von den Teletubbies inspiriert: Nochmal, nochmal! Auf den verzweifelt Geschrieenen folgte der düster Geraunte. Das hört sich jetzt vielleicht etwas bösartig an, deshalb soll der Hamlet Hans Löw ausdrücklich über den grünen Klee hinaus gelobt werden. Schöne Stimme, kraftvoller Typ. Präsenz, Aura, Größe.

Da jede Hamlet-Inszenierung auch ein Spiegel der Zeit ist, verwundert es nicht, dass in dieser Inszenierung dem Polonius, Musterbeispiel eines wildgewordenen Bürokraten, der meiste Platz eingeräumt wird. Sein Bruch des Postgeheimnisses mit Verkündung des Hamletschen Vierzeilers „Zweifle an der Sonne Klarheit, Zweifle an der Sterne Licht, Zweifl’ ob Lügen kann die Wahrheit, Nur an meiner Liebe nicht“ wurde ausgewalzt und eingefaltet wie ein Hamburger Franzbrötchenteig und Gertrudens Einwurf „Mehr Inhalt wen’ger Kunst“ mit Szenenapplaus bedacht. Der sonst hervorragende Norman Hacker zeichnete reichlich Anleihen bei der Jim-Carrey-Bank für kinetische Kaspereien, aber was solls.

Und der wortgewandte intrigante Mörder und Blutschänder Claudius? Er hätte vor Hamburgs korrupten Richtern sicher Gnade gefunden, inklusive Asylrecht und bei vollem Bezug seiner königlichen Rente. Verkehrte Welt: Es steht Tragödie auf der Hamlet-Packung, doch die Leute sehen nur Comedy.

Trotzdem: ein guter, hochklassiger Theaterabend. (4 von 5)

Hamlet. Thalia Theater, Premiere Sa, 5. April 2008
Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Henrik Ahr, Kostüme: Barbara Drosihn, Musik: Bert Wrede, Dramaturgie: John von Düffel – Darsteller: Hans Löw (Hamlet), Felix Knopp (Claudius, König), Victoria Trauttmansdorff (Gertrud, Königin), Norman Hacker (Polonius), Paula Dombrowski (Ophelia), Jörg Koslowsky (Laertes), Jan Dziobek (Der Schauspieler), Markus Graf (Geist, Hamlets Vater/Osrick), Moritz Grove (Rosenkranz), Andreas Köhler (Güldenstern), Peter Per (Reinhold)

Dienstag, 5. Februar 2008

Der Stagirit spricht

Die für die Hamletsche Abschweifung herangezogene Stelle aus dem Werk des Aristoteles konnte ich ausfindig machen. De sensu fand sich gleich zu Beginn in einer von Eugen Dönt übersetzten und editierten Ausgabe der Kleinen Naturwissenschaftlichen Schriften (Parva naturalia).

Was Wahrnehmung und Wahrnehmen ist und aus welchem Grund diese Erscheinungen bei den Lebewesen vorkommen, wurde früher in der Vorlesung über die Seele gesagt. Lebewesen müssen, insofern jedes ein Lebewesen ist, Wahrnehmung haben, denn dadurch unterscheiden wir Lebewesen von Nicht-Lebewesen. Was nun die einzelnen Sinne betrifft, kommt allen Lebewesen notwendig Tast- und Geschmackssinn zu, Tastsinn aus dem in der Vorlesung dargelegten Grund, Geschmackssinn der Nahrung wegen; denn durch den Geschmackssinn unterscheidet das Lebewesen zuträgliche von nicht zuträglicher Nahrung, so daß es die eine meiden, die andere aufsuchen kann: der Geschmack ist ja das Charakteristikum der Nahrung. Die Sinne, die auf ein äußeres Medium angewiesen sind, also Riechen, Hören und Sehen, haben die Lebewesen, die sich fortbewegen können. Alle, die diese Sinne besitzen , haben sie zum Zweck der Erhaltung, um die Nahrung aufzuspüren zu können, die sie aufsuchen sollen, und um die schlechte und verderbliche meiden zu können. [437a] Lebewesen, die mit Intelligenz begabt sind, haben diese Sinne zum Zweck des Wohlbefindens, denn sie machen sie mit distinktiven Merkmalen bekannt, woraus theoretische und praktische Einsicht folgt. Von diesen Sinnen ist für die Notwendigkeiten des Lebens des Gesichtssinn seinem Wesen nach, für das Wissen der Gehörsinn indirekt entscheidender. Denn dadurch, daß alle Körper Farbe haben, …


Und so weiter und so fort, mit dem Unsinn der Induktionskochplatte Aristoteles. Man kann getrost jeden Satz in die Tonne kloppen, aber man fühlt durch den Geist des Schwurbels, der Hamlet reitet, als seiner Mutter Vorträge hält.

Sonntag, 20. Januar 2008

Der aufgeblasene Shakespeare

(Ham III.4) Gerade hat Hamlet für einen veritablen Theaterskandal gesorgt, König Claudius ist verstimmt und zieht sich in seine Kapelle zurück. Hamlet bringt ihn nicht um, da es ein unpassender Moment wäre, ihn direkt in die Hölle zu befördern. Stattdessen wird Hamlet in die Kammer seiner Mutter zitiert, um sich zu erklären. Dort sticht er in den teuren Gobelin, hinter dem sich sein bis dato potenzieller Schwiegervater Polonius befand. Hamlet zeigt kein Mitleid, bedauert nur, dass es nicht den Richtigen erwischt habe. Dann springt er zur Mutter und Königin Gertrud aufs Bett und hält ihr einen Vortrag über das rechte Benehmen, inklusive Sexualverhalten bei älteren Damen.
Nennt es nicht Liebe! Denn in Eurem Alter
Ist der Tumult im Blute zahm; es schleicht
Und wartet auf das Urteil: und welch Urteil
Ging’ wohl von dem [Hamlet sen.] zu dem [Claudius]? Sinn habt Ihr sicher,
Sonst könnte keine Regung in Euch sein:
Doch sicher ist der Sinn vom Schlag gelähmt,
Denn Wahnwitz würde hier nicht irren; nie
Hat so den Sinn Verrücktheit unterjocht,
Daß nicht ein wenig Wahl ihm blieb, genug
Für solchen Unterschied.
Was für ein Teufel
Hat bei der Blindekuh Euch so betört?
Sehn ohne Fühlen, Fühlen ohne Sehn,
Ohr ohne Hand’ und Aug’, Geruch ohn’ alles,
Ja nur ein Teilchen eines echten Sinns
Tappt nimmermehr so zu.

Scham, wo ist dein Erröten. […]

Was für ein Teufel führt dem Herren Shakespeare hier die Feder? Was sollen die sterbenslangweiligen zehn Zeilen theoretischer Erörterung hier in dieser hochdramatischen, actiongeladenen Szene? - Nun, sie sind nachträglich eingefügt worden! Das erste Quarto (Q1, 1603) paraphrasiert eher die Szene, im ersten Folio (FF) von 1623 fehlen die o.a. Stellen völlig , die aus dem zweiten Quarto (Q2), dem Garrick-Quarto von 1604 übernommen wurden.

Und was bedeutet das überhaupt: Sinn habt Ihr sicher, / Sonst könnte keine Regung sein: / Doch sicher ist der Sinn vom Schlag gelähmt ? Harold Jenkins gibt den Hinweis, dass C.S. Lewis (Ja, der Narnia-Chronist) diese Stelle in seinen Studies of Words untersucht habe, und dabei einen Hinweis auf den alten Weltweisen Aristoteles sieht, der in seiner Schrift De sensu erklärte, jegliche Kreatur, die über die Gabe der Fortbewegung verfüge, müsse notwendigerweise auch über die äußeren Sinne verfügen. - Das heißt: Um den (komplett überflüssigen) obigen Satz zu verstehen, muss man sich erst einmal in das (mittlerweile komplett überholte) Wahrnehmungskonzept des Aristoteles hineinversetzen, mit ihm über die dampfenden Schlachtfelder der Antike schreiten und in den Gehirnen der Verletzten und Gefallenen herumstochern.

Vielen Dank, Herr Shakespeare, Sie übler Bildungsprotz! Wir sehen uns in der Bibliothek.

Samstag, 12. Januar 2008

Hamlet, eine Stummfilmdiva?


Aber ja! Im Jahr 1920 zeigte die göttliche Asta Nielsen der Welt ihre von Edward Vining inspirierte Interpretation des Hamlet: Eigentlich war Hamlet eine Prinzessin, die Verwirrung der Ophelia wird verständlich und die Beziehung zu Horatio war nicht nur rein freundschaftlich. - Ausschnitte aus dem Werk gibt es bei Youtube hier. Denn auf der Berlinale 2007 wurde der Asta-Nielsen-Hamlet anlässlich einer Retrospektive in der Volksbühne gezeigt und mit Live-Musik unterlegt. Der Clip begleitet das Orchester bei Proben, Besprechungen und der Premiere. Hoffentlich wiederholt der Fernsehsender arte den Stummfilm demnächst.


MIT Hamlet on the ramparts: Hamlet, a woman? - Mit Real-Player-Clips des 1920er Hamlet

Kathi Hetzinger informiert kenntnisreich u.a. auf satt.org: Cinemania 41

Monika Seidl "Room for Asta: Gender roles and melodrama in Asta Nielsen's filmic version of Hamlet (1920)". Literature Film Quarterly. 2002. FindArticles.com. 13 Jan. 2008. http://findarticles.com/p/articles/mi_qa3768/is_200201/ai_n9057293

Edward P. Vining: The Mystery of Hamlet 1881. (Prinzessin Hamlet)

Sonntag, 6. Januar 2008

Guter Vorsatz

Wer Shakespeare wahrhaftig verstehen möchte,
der muss gleichfalls verstehen,
in welcher Beziehung Shakespeare zu Renaissance und Reformation stand,
zum elisabethanischen wie jakobäischen Zeitalter;
der sollte vertraut sein mit der Geschichte des Kampfes um die Vorherrschaft zwischen den alten klassischen Formen und dem neuen Geist der Romanzen,
zwischen der Schule eines Sidney, Daniel und Johnson und der Schule des Marlowe oder seines bedeutenderen Sohnes;
der sollte Kenntnisse verfügen über die Stoffe, die Shakespeare zur Verfügung standen, und die Art und Weise, wie er sie benutzt hat,
Kenntnisse über die Bedingungen unter denen im 16. und 17. Jahrhundert sich Theater darstellte, die Einschränkungen und Möglichkeiten der Freiheit,
Kenntnisse über die Literaturkritik zur Shakespearezeit, ihre Ziele, die Art und Weise, und ihren Kanon;
der sollte die englische Sprache in ihrem Wandel und Fortschritt studieren, den Blankvers und gereimte Verse in in ihren vielfältigen Entwicklungen;
der sollte das griechische Drama studieren, und die Verbindung des Schöpfers des Agamemnon mit dem Schöpfer des Macbeth;
in einem Wort, er sollte in der Lage sein, das Athen des Perikles mit dem elisabethanischen London zu verknüpfen, - um Shakespeares wahre Stellung in der Geschichte des europäischen Dramas und des Welttheaters zu erfassen.
Oscar Wilde, The Critic as Artist, 1891.

Mittwoch, 2. Januar 2008

In der Wüsten Reihe #9


Dank Herrn Pfister (s.u.) nuschelte und nölte mich der 1965er Bob Dylan über den Jahreswechsel. Bob Dylan fand auf Highway 61 Revisited das Fräulein Ophelia in seiner Desolation Row.
Now Ophelia, she’s ’neath the window
For her I feel so afraid
On her twenty-second birthday
She already is an old maid

To her, death is quite romantic
She wears an iron vest
Her profession’s her religion
Her sin is her lifelessness
And though her eyes are fixed upon
Noah’s great rainbow
She spends her time peeking
Into Desolation Row
(Quelle: BobDylan.com)
Bob Dylan kann sich über eine geringe Exegeten-Schar nicht beklagen. Seine Songtexte werden seit Generationen regelmäßig durch- über- und fehlinterpretiert. Für mich hört sich Desolation Row nach den Erlebnissen eines Zugedrogten in der Notaufnahme eines Großstadtkrankenhauses an, notiert auf der Heimfahrt in einem New Yorker Taxi, nachdem die Pfleger ihn vor die Tür gesetzt haben; aber … es gibt auch andere Meinungen. (Dylan mit Warhol, 1965 in der Factory, hier.)